re:publica 2024 – so sollte es sein!

Dieser Beitrag enthält meine persönliche Meinung und bildet nur einen kleinen Teil der re:publica ab.

Menschen, wohin das Auge sieht. Tausende, auf engstem Raum, aufgeregt – und friedlich. Die Luft vibriert vor Erwartung. Auf der re:publica hat schlechte Laune keinen Platz. Nicht beim Anstehen für die Toilette, nicht draußen am Burrito-Wagen, nicht in der großen Eingangshalle der STATION Berlin, eines Veranstaltungsorts auf dem ehemaligen Gelände des Postbahnhofs Luckenwalder Straße. Auch nicht bei den teilweise schweren Themen, die die Besucher erwarten. Sachlichkeit, Offenheit, Weitsicht und Toleranz prägten in diesem Jahr nicht nur die Veranstaltung selbst, sondern auch die schier unglaubliche Anzahl von Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Panels.  

Wen kümmerts – und wer kümmert sich? 

Der demografische Wandel und die Flucht vor Krieg und Klimakatastrophe waren die Treiber hinter dem Motto der diesjährigen Veranstaltung. „Who cares?“, fragte die re:publica – in der Hoffnung auf viele Freiwillige. Und die Atmosphäre der Veranstaltung ließ hoffen. So erhielt Mitbegründer Johnny Haeusler bereits beim Opening tosenden Applaus für den Aufruf an die Männer im Publikum, Feministen zu sein – und sich dementsprechend auch stärker an der leider noch immer oft von Frauen geleisteten Care-Arbeit zu beteiligen.  

„Wir müssen früher sagen: ‚Alter, halts Maul‘!“ 

Johnny Haeusler, Mitbegründer 

Haeusler gab in diesem Kontext auch einen der in meinen Augen vielleicht relevantesten Sätze der diesjährigen re:publica zum Besten: „Wir müssen früher sagen: ‚Alter, halts Maul‘!“. Gemeint als Mittel zur Bekämpfung „sexistische[r] Kackscheiße“, ist dieser Satz in meinen Augen in einem noch viel größeren Kontext anwendbar. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, rechte Gesinnungen, Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierungen: Trotz ihrer relativen Offenheit hat unsere Gesellschaft auch heute noch viele Probleme – und wenn der Satz nicht dazu beitragen kann, diese zu lösen, dann sollte er zumindest kurzzeitig für Irritation bei denen sorgen, die sie verstärken. 

Die richtigen Botschaften verbreiten 

Für eine sanftere Art der Radikalität plädierte die Journalistin Jagoda Marinić bei der Eröffnungs-Keynote. Deutschland müsse lernen, „das Gute zu stärken“, ohne dabei das zu verstärken, was es bekämpfe – eine Meinung, die auch in der Diskussionsrunde „Jung und rechtsextrem – von TikTok bis ins Klassenzimmer“ aufgegriffen wurde. Dabei waren sich die Referent:innen Susanne Siegert, Theresa Lehmann und Emmanuel Krüss weitgehend einig, dass „mit Rechten [zu] reden keine gute Strategie ist – mit Rechten [zu] Stitchen ist es auch nicht“. Stitchen? Ich als Boomer im Körper eines Millennials musste das natürlich googeln. Es handelt sich dabei um eine Möglichkeit, TikTok-Videos anderer in eigenen Videos zu zitieren. Im Kontext würde das bedeuten, Inhalte rechter Influencer weiterzuverbreiten – wenn auch nur, um sie zu kommentieren.  

Mein Lieblingszitat dieser Diskussionsrunde stammte von dem Lehrer und Influencer Emmanuel Krüss. Er erzählte von einem Erlebnis in einer seiner Klassen. Kurz: Eine Schülerin hantierte mit Nagellack, Krüss bat sie um eine Maniküre, die Jungs in der Klasse reagierten (gelinde gesagt) verwundert, und er konterte mit der Aussage: „Nagellack ist für alle!“. Auch, wenn Nagellack meinen persönlichen Geschmack nicht unbedingt trifft, so ist es doch beruhigend, dass es Menschen gibt, die schon Kindern beibringen, dass sie sich in jeder Beziehung frei entfalten können. 

Falsche Botschaften erkennen 

Dass dabei auch Vorsicht geboten ist, zeigte der große Fokus auf die Themen Falschinformation und Populismus. Strategien der Polarisierung und Emotionalisierung werden nicht annähernd nur von rechten Akteur:innen genutzt. So zeigte Professor Steffen Mau von der Humboldt-Universität zu Berlin auf, dass viele politischen Parteien zu polarisierenden Aussagen greifen, um vor Wahlen auf Stimmenfang zu gehen. Grund dafür sei ein Mangel an Abgrenzung untereinander – denn innerhalb der großen gesellschaftlichen Konflikte (Mau identifiziert sie als Oben-Unten, Innen-Außen, Wir-Sie und Heute-Morgen) seien sie in der Regel fast identisch positioniert. 

Polarisierend wirkt auch die Überhöhung des Themas Migration im politischen Diskurs. Schon Haeusler sprach in der Eröffnungsrede davon, dass die vermeintliche Einwanderungsproblematik viel stärker im Fokus des öffentlichen Diskurses läge als etwa zweifelhafte Grenzschutzmaßnahmen der Europäischen Union unter Einsatz hochmoderner Technologien. Letztere wurden in dem Vortrag „Against Automated Fortress Europe“ von Fabio Chiusi und Antonella Napolitano problematisiert – wobei Chiusi auch die Erzählweise der Europäischen Union kritisierte: „Migration is not a problem that can be solved  […], and it shouldn’t be portrayed as such.“ 

Ins rechte Licht gerückt 

Stehende Ovationen – was bei Opernaufführungen beinahe normal erscheint, war auf der re:publica erstaunlich selten. Mit einer Ausnahme: Am Ende der Keynote des Investigativ-Journalisten Jean Peters, der für Correctiv zum „Geheimplan gegen Deutschland“ recherchiert hatte, stand der ganze Saal – für mehrere Minuten. Dabei gab er nicht nur spannende Details aus der Recherche selbst preis, sondern analysierte auch die Folgen, die die Veröffentlichung der Informationen hatte. Sein Schlüssel zum Vorgehen gegen rechts: „Brandmauer heißt nicht, wegzuschauen, sondern hinzuschauen und aufzudecken, was die machen“.  

Wo mir der Kopf steht? Who cares? 

Bei über 800 verschiedenen Vorträgen oder Workshops war eine durchdachte Vorauswahl ebenso entscheidend wie letztlich in Teilen sinnlos. Zu groß die Reizüberflutung, zu stark die Versuchung, spontan einen anderen Vortrag anzusehen als ursprünglich geplant. Und das ist gut so, denn im Nachhinein betrachtet war mein Plan stark geprägt von aktuellen Entwicklungen.  

Insbesondere Rechtspopulismus, Propaganda und Faktenchecks waren stark vertreten, dazu etwas künstliche Intelligenz. Letztlich sah ich Keynotes zu Themen wie Innovation, Afrofuturismus, den zweifelhaften Praktiken von Amazon, zu Neurowissenschaften und zu vielen weiteren Themen. Viele davon waren neu für mich, und die meisten haben mein Blickfeld erweitert. 

Ausnahmen bestätigen die Regel 

Dass bei einer solchen Masse nicht alle Vorträge gefallen können, ist eine Selbstverständlichkeit. So kam etwa der Vortrag „Humor in der Klimakrise: Wie Memes den politischen Klimadiskurs beeinflussen“ zu dem Ergebnis, dass besagte Spruchbilder keine ausschlaggebende Rolle für den Exkurs spielten. Andernorts führten Mark Benecke, Paula Lambert und Magdalene Trapp eine (meiner Ansicht nach) erstaunlich inhaltsleere Diskussion zum Thema Biodiversität und dem Verlust der natürlichen Vielfalt.  

Mangels Abgrenzung zwischen den Diskussionspartner:innen war man sich hier schnell einig, dass – überspitzt gesagt – ein Wurst-Verbot und ein ungepflegter Garten dem globalen Insektensterben entgegenwirken könnten. Hier fehlte mir leider eine größere Perspektive, insbesondere angesichts dessen, dass ich kurz vorher den Vortrag „Alles muss man selber machen. Was wir ändern müssen, damit sich was ändert.“ von Barbara Blaha angehört habe, der unter anderem die folgende Aussage enthielt: „Ein durchschnittlicher Milliardär ist für unsere Umwelt so schädlich wie eine Million ‚normale‘ Menschen“. 

Ein kurzes Loblied 

Von einer Tatsache sollten diese „Negativbeispiele“ keinesfalls ablenken: Die re:publica ist eine Veranstaltung mit Vorbildcharakter, die gerade ob der aktuellen Krisen und Konflikte nötiger gebraucht wird denn je – und ein Musterbeispiel dafür, wie unterschiedlichste Menschen friedlich und konstruktiv zusammenkommen können. Eine integrative „bunte Bubble“, wie es sie überall geben sollte. Zum Abschluss noch ein hilfreicher Tipp dafür, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen – aus dem Vortrag „KI wird uns alle retten! Es sei denn, sie tut es nicht.“ von Matthias Spielkamp (AlgorithmWatch): „Lasst euch nicht verarschen. Lest nach. Fragt nach.“